Bundesteilhabegesetz: Noch viele Nachbesserungen nötig - Enttäuschung bei Betroffenen und Sozialverbänden ist groß
Neudietendorf, 29. April 2016. Claudia Zinke und Bernhard Scholten haben in den vergangenen Tagen viele Nachtschichten eingelegt. Claudia Zinke ist Referentin beim Paritätischen Gesamtverband, Bernhard Scholten Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Sozialministerium. Auf ihren Schreibtischen liegt seit Dienstag dieser Woche der 369-Seiten-stark Referentenentwurf für ein neues Bundesteilhabegesetz. Sie haben die zahlreichen Änderungen an bestehenden Gesetzeswerken analysiert, geprüft, um eine erste Einschätzung des neuen Gesetzes abzugeben. Ihre Bewertung fiel naturgemäß unterschiedlich aus: Während Claudia Zinke in dem Gesetz, das noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll, viele Fallstricke und auch Verschlechterungen für die Betroffenen sieht, wirbt Scholten für den Entwurf, sieht aber durchaus auch an der ein oder anderen Stelle noch Nachbesserungsbedarf. Das machten sie bei einem von der „Glücksspirale“ unterstützten Fachtag des Paritätischen Thüringen in Neudietendorf deutlich.
Als der Fachtag vor etlichen Monaten geplant wurde, war nicht absehbar, dass der Termin eine solche Punktlandung werden würde. Denn genau drei Tage vorher veröffentlichte das Ministerium den Referentenentwurf. Betroffene hatten an ihn hohe Erwartungen geknüpft: Verbesserung der Selbstbestimmung, Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht – so die Stichworte. Nach einer ersten Lektüre stützt aber auch Barbara Vieweg, die Vorsitzende des Jenaer Zentrums für selbstbestimmtes Leben die Einschätzung von Claudia Zinke: Der Entwurf bringt kaum Fortschritte für die Betroffenen, bedeutet in einigen Bereichen sogar Verschlechterung und muss insgesamt kräftig nachgebessert werden. „Danke für nichts“ hatte ein Kritiker im Internet an die Adresse der Politiker geschrieben. Ganz so hart würde Vieweg das zwar nicht sehen, „aber die Tendenz geht in die Richtung“, sagte sie in einer Talkrunde bei dem Fachtag, an dem auch Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linkspartei) teilnahm.
Auch die Sozialpolitikerin ist nicht ganz glücklich mit dem, was da vom Bundessozialministerium veröffentlicht worden ist. „Ich habe großes Verständnis für die vielen enttäuschten Stimmen aus den Reihen der Betroffenen, die ich in den vergangenen Tagen gehört habe“, erklärte sie. Sie bedauert, dass viele der guten Vorschläge, die aus den Reihen der Betroffenen in das Gesetzesverfahren eingespeist worden waren, auf der Strecke geblieben sind. Sie verspricht, dass sie sich dafür einsetzen wird, dass zumindest keine Verschlechterungen Folge des Gesetzes seien. Und sie nennt konkrete Kritikpunkte: Die Finanzierung ist unklar, sie fordert eine stärkere Beteiligung des Bundes, will auch das offenbar vom Bund zu den Akten gelegte Bundesteilhabegeld noch einmal als Thema aufrufen. Auch die Regelungen zur Assistenz gehen ihr wie einiges andere nicht weit genug. Sie sagt zu, gemeinsam mit ihren Länderkollegen wie auch mit den Sozialverbänden für Nachbesserungen einzutreten.
Stefan Werner, der stellvertretende Direktor der paritätischen BuntStiftung wendet sich vehement gegen ein „Gesetz nach Kassenlage“, mahnt die Einbeziehung des Sach- und Fachverstandes der Sozialverbände an und formuliert als Ziel die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Daran habe sich auch das neue Gesetz zu orientieren.
Denn, soviel ist klar, mehr Geld als bisher wird für die neuen Teilhaberegelungen nicht zur Verfügung stehen. „Das Gesetz schreibt den Status quo fest“, sagt Claudia Zinke vom Paritätischen Gesamtverband. „Die Begrenzung der Ausgabendynamik“ wurde einmal als Ziel festgeschrieben, daraus ist die politische Entscheidung geworden, kein Geld drauflegen zu wollen.
Im Laufe der Diskussion wurden viele Kritikpunkte an dem Gesetz festgemacht. So wird der Leistungsanspruch auf die kostengünstigsten Leistungen normiert, es gibt keinen Rechtsanspruch auf Beratung, die Freigrenze bei der Heranziehung des Vermögens wird erhöht, aber nicht abgeschafft. Auf heftige Kritik stieß auch, dass die Verwertbarkeit von Arbeitsleistungen im Vordergrund steht und Pflege vor Teilhabe geht. Deshalb werden als Folge dieser Regelungen Leistungsverschlechterungen befürchtet. Vergütungen können außerdem nur vereinbart werden, wenn sie im externen Vergleich im unteren Drittel liegen. Das führt zu einer Vergütungsspirale nach unten und zur Absenkung von Leistungen, so Claudia Zinke. Es drohen außerdem Einschränkungen bei der sozialen Teilhabe, bei gesundheitsbezogenen Teilhabeleistungen und der Hilfsmittelversorgung sowie bei Bildung und Mobilität. Auszuschließen ist auch nicht, dass Menschen, die bisher anspruchsberechtigt sind, aus dem System fallen.
An der Frontseite des Tagungsraumes prangte eine Karikatur, die eine Achterbahn zeigt. Renate Rupp vom Paritätischen Thüringen zog einen Vergleich zu dem bisherigen Verlauf der Gesetzgebung: Gestartet sei man mit viel Euphorie, dann kamen die Mühen der Ebene, die sich immer mehr in die Länge zogen und schließen drohen beim Looping die Betroffenen herunterzufallen. Damit genau das nicht passiert, ist jetzt viel gemeinsame Arbeit nötig.
Dazu aber wird die Zeit knapp, denn schon vom 23. bis 25. Mai sind die Anhörungen zum Gesetz in Berlin geplant. Und das Ganze soll bis Ende des Jahres durch Bundesrat und Bundestag sein. Für Claudia Zinke und Bernhard Scholten ist schon jetzt klar: Die bisherigen Nachtschichten zur Analyse des Gesetzentwurfes sind nicht die letzten in diesem Jahr gewesen.
Die beiden Inputs von Bernhard Scholten und Claudia Zinke finden Sie im Anhang
Tags: Bundesteilhabegesetz, Stefan Werner, Menschen mit Behinderung, Claudia Zinke, Bernhard Scholten