Familienpolitik in Thüringen: „Es gibt noch viel zu tun, bleiben wir dran“
Erfurt. Fanny Kratzer ist eine vierfache alleinstehende Mutter. Ihre Kinder sind 7, 11, 14 und 15 Jahre alt. Sie ist in Vollzeit berufstätig. Das tägliche Management ihres Haushalts erfordert viel Organisationsgeschick, viel Kraft und gute Nerven. Und auch ein gutes Netzwerk an Verwandten wie Omas und Tanten, die einspringen, wenn die Mutter gerade mal nicht kann. Fanny Kratzer meistert ihren Alltag – aber sie hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Mal fehlen Unterstützungsangebote, mal gibt es in der Schule kein Verständnis für die finanziellen Engpässe in ihrer Familie, mal muss sie Abstriche bei Freizeitangeboten machen. Eindrucksvoll und mitreißend schilderte Fanny Kratzer beim achten Thüringer Sozialgipfel in Erfurt ihren Tagesablauf, der morgens damit beginnt, die Kinder schulfertig zu machen und abends mit Gesprächen mit den Kindern endet, in denen man den Tag noch einmal Revue passieren lässt.
Persönliche Einblicke in das Leben von Thüringer Familien bildeten bei dem Sozialgipfel die praktische Grundlage für die anschließenden Diskussionen. „Es gibt in der Gesellschaft wenig Platz für das Familienmodell Alleinerziehende mit vielen Kindern“, sagte Fanny Kratzer aus ihren täglichen Erfahrungen heraus. Sie wünscht sich mehr niedrigschwellige Unterstützungsangebote, einfache und unkomplizierte finanzielle Entlastungen und insgesamt mehr Verständnis für Familien mit mehreren Kindern.
Die Gothaerin Dr. Heide Wildauer und Gabriele Pilling aus Jena berichteten über Belastungen ganz anderer Art. Beide pflegen Angehörige und berichteten in eindrucksvoller Weise über ihren Alltag. Heide Wildauer appellierte eindringlich an die Verantwortlichen, für Entlastungsmöglichkeiten zu sorgen. Sie forderte mehr Weiterbildungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige, damit ihnen der Alltag im Umgang mit den Pflegebedürftigen erleichtert werde. Außerdem müssten die Fördermöglichkeiten für pflegeentlastende Maßnahmen ausgebaut werden. Und auch die finanziellen Belastungen für Pflegebedürftige und deren Angehörige gehörten auf den Prüfstand Heide Wildauer wies darauf hin, dass in den Thüringer Pflegeheimen eine durchschnittliche monatliche Zuzahlung von 1850 Euro anfalle.
Gabriele Pilling schilderte engagiert und emotionsvoll den alltäglichen Kampf um Hilfsmittel, das nervenzerreibende Warten auf die Genehmigung von Anträgen, den Stress im Umgang mit den Pflegekassen. Ihr Fazit: Theoretisch gebe es eine Vielzahl von Hilfsmöglichkeiten, die aber oft an starrer Bürokratie scheiterten. „Erst wenn alle, die Entscheidungen auf diesem Feld treffen, solche Situationen wie ich selbst erleben müssen, kann sich an de Situation etwas ändern“, ist sie sicher.
Familien in Thüringen sind zahlreichen Herausforderungen und Belastungen ausgesetzt. Das gilt vor allem für kinderreiche Familien und Alleinerziehende. Die Kinder- und Familienfreundlichkeit in der Gesellschaft müsse gestärkt werden, forderte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow. „Kinder müssen uns viel mehr wert sein“, sagte er. Damit stieß er auch beim Hauptgeschäftsführer des Paritätischen, Ulrich Schneider, und dem Thüringer Landesgeschäftsführer Stefan Werner auf Zustimmung. Was noch alles zu tun ist und vor welchen Herausforderungen eine moderne Familienpolitik in Thüringen steht, haben die Teilnehmenden des Sozialgipfels in einem Papier festgehalten. Darin heißt es unter anderem, dass in der Kommunal- und Regionalplanung auf die Belange von Familien verstärkt Rücksicht genommen werden solle. Es wird die Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen für Familien in ganz Thüringen und innerhalb der jeweiligen Gebietskörperschaften erhoben.
Ein großes Problem auch in den Thüringer Städten ist bezahlbarer Wohnraum. Mit dem verstärkten Bau von Sozialwohnungen soll hier gegengesteuert werden. Außerdem sollen Förderprogramme Mieter davor schützen, beim Wegfall der Sozialbindung ihre Wohnung zu verlieren oder nur zu ungünstigen Konditionen halten zu können. Die Schaffung von ausgewogenen sozialen Strukturen in Wohngebieten und die Verbesserung des Wohnumfeldes stehen ebenfalls in den Forderungen an die Politik, die der Sozialgipfel formulierte. Im Bereich Arbeit wird eine moderne Arbeitszeitpolitik verlangt, die es berufstätigen Müttern und Vätern ermöglicht, berufliche Erfordernisse besser mit dem Familienleben zu vereinbaren. „Wir brauchen mehr Arbeitszeitsouveränität der Beschäftigten“, heißt es dort.
Thüringens Sozialministerin Heike Werner sieht Thüringen zwar familienpolitisch auf einem guten Weg. Sie mahnte aber auch: „Es bleibt noch viel zu tun, bleiben wir dran.“