Wohnraum wird auch in Thüringen dringend gesucht - „Es gibt Lösungen, die sind aber nicht einfach.“
Sömmerda, 2. November 2016. Werner Hein ist ein pragmatisch denkender Mensch. „Das Ziel ist entscheidend“, sagt der langjährige Leiter des Amtes für Wohnraumversorgung der Stadt Freiburg im Breisgau. Jetzt ist er dort für Migration und Integration zuständig. Er ist unkonventionell Weg gegangen, um wohnungslosen Menschen in der schwäbischen Stadt ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Bei einer von der Glücksspirale geförderten Fachtagung der Paritätischen Kreisgruppen Sömmerda und Gotha berichtet Hein von seinen Erfahrungen, spricht denjenigen, die sich in Thüringen um Obdachlose und Menschen kümmern, die ihre Wohnung zu verlieren drohen, Mut zu. „Unterschätzen Sie Ihre Möglichkeiten nicht“, so sein Appell. Hein spricht ebenso wie Sabine Bösing, Referentin beim Paritätischen Gesamtverband, von einem gerne von der Politik verdrängten Problem. Ihre gemeinsame Kritik an der Verwaltung: Die schon jetzt bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum werden kaum ausgenutzt. Unser Bild zeigt von links nach rechts Sandra Geyer, Mitgliederpilotin beim Paritätischen, Sabine Bösing, Werner Hein, Carmen Werner und Karsten Thiersch.
Schwierig wird es schon, wenn es um Zahlenmaterial zum Thema Wohnungsnot geht. Nicht nur eine bundesweite Statistik über wohnungslose Menschen fehlt. Auch in Thüringen gibt es keine Übersicht. Zahlen über Obdachlosigkeit, die das Sozialministerium auf eine Kleine Anfrage hin dem Landtag vorlegte, zweifeln Hein ebenso wie die Teilnehmenden an der Fachtagung an. Danach gibt es in ganz Thüringen 572 Obdachlose, im ganzen Landkreis Sömmerda nur einen und im Landkreis Gotha sieben Obdachlose.
Für Karsten Thiersch und Carmen Werner vom Verein Netzwerk Regenbogen e.V., die aktuell im Projekt „ANKER“ Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in Sömmerda und Umgebung beraten, bezweifeln diese Zahlen, die durch Abfrage des Ministeriums bei Kreisen und kreisfreien Städten entstanden sind. Wohnungsnot ist ein Problem mit einer hohen Dunkelziffer. Mehr als 100 Fälle haben die Mitarbeitenden von ANKER seit dem Projektstart Anfang des Jahres schon beraten. Sie haben versucht, Menschen, denen der Verlust der Wohnung drohte, zu helfen. Oft kommen die Betroffenen allerdings in einer Phase, in der Klage oder Zwangsräumung unmittelbar bevorstehen. Hier würden sich Thiersch und Werner eine Art Frühwarnsystem wünschen, damit sie schneller und effektiver eingreifen können.
Bei ANKER finden die oft verzweifelten Menschen ein unabhängiges, offenes Ohr für die anliegenden Probleme. Dabei wird auch die Gesamtsituation in den Blick genommen. Denn drohende Wohnungslosigkeit ist oft genug mit vielen anderen Problemen verbunden – von totaler Überschuldung bis zu Langzeitarbeitslosigkeit. Hier vermitteln die Projekt-Mitarbeitenden dann auch oft an andere Institutionen.
„Obdachlosigkeit ist oft nur ein Segment der Probleme“, stimmt auch Hein aus seinen langjährigen Erfahrungen zu. Oft kommen Probleme wie Sucht und/oder psychische Erkrankung hinzu. Nach einer Prognose von Betroffenenverbänden wird die Zahl der Wohnungslosen in den nächsten Jahren auf 380.000 Personen steigen. Und auch sonst verschärfen sich die Probleme: Die Straßenobdachlosigkeit steigt, die Zahl der Zwangsräumungen nimmt zu. Und: Jeder zehnte Wohnungslose ist minderjährig.
Was fehlt, ist oft genug bezahlbarer Wohnraum. Hein fordert Belegungsrechte für freigewordene Wohnungen, das Angebot von bezahlbarem Wohnraum geht zurück. Und der erfahrene Verwaltungsexperte rät den Kommunalpolitikern, auch unkonventionelle Wege einzuschlagen, um Wohnraum zu schaffen und Menschen vor der Wohnungslosigkeit zu bewahren. In Freiburg beispielsweise gibt es eine Wohnungsnotfalldatei, bei der die Dringlichkeit, neuen Wohnraum zuzuweisen, nach einem festen Punktesystem beurteilt wird.
Die Stadt beschäftigt ein Team von fünf Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die sich um Menschen in Wohnungsnot kümmern, die mit Vermietern reden, die einen Ausgleich suchen, wenn die Wohnung gekündigt ist oder die Kündigung angedroht wird. Die Erfolgsbilanz dieser präventiven Arbeit ist beeindruckend. Etwa 80 Prozent der Mietverhältnisse konnten so erhalten werden. „Präventive Hilfe ist sieben Mal günstiger als Anschlusshilfe in Unterstützungssystemen“, macht Hein den Zuhörenden klar und regt einen weiteren Fachtag an, zu dem dann vorrangig diejenigen eingeladen werden sollten, die Kommunalpolitik machen. Auf unkonventionellem Wege wird in Freiburg auch Wohnraum geschaffen. So konnte durch das Instrument der mittelbaren Belegung 45 dezentrale Wohnungen in der Stadt für Wohnungslose geschaffen werden.
Kreative Ideen und Lösungen sind gefragt, um das Problem in den Griff zu bekommen. Das machte Hein deutlich. Die sind aber auch gefragt, wenn es darum geht, psychisch kranken Menschen eine neue Wohnung zu verschaffen. Sabine Bösing leitet das über fünf Jahre angelegte Modellprojekt, mit dem der Paritätische Gesamtverband wegweisende Impulse zur Inklusion psychisch kranker Menschen geben will. Deutschlandweit soll so geholfen werden, das Wohnen für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern. Schon jetzt kristallisieren sich einige Knackpunkte heraus: So brauchen soziale Träger eine größere Rechtssicherheit bei der Anmietung von Wohnraum. Das Thema soll außerdem mehr in die Öffentlichkeit getragen werden. Denn noch immer erfahren die Träger des Projektes in den Modellregionen, wie schwierig es ist, Wohnraum für psychisch kranke Menschen zu finden – selbst auf dem Lande, wo es eigentlich ausreichend Wohnraum geben sollte.
Gut funktionierende Netzwerke – und besser noch verbindliche Kooperationsbeziehungen - sind da nach Einschätzung von Sabine Bösing ein Mittel, um auf dem Wege zu mehr Teilhabe der Menschen mit psychischen Erkrankungen voranzukommen.
Solche Netzwerke sind in Sömmerda schon geknüpft, sollen aber weiter ausgebaut werden, berichten Karsten Thiersch und Carmen Werner. „Um betroffenen Menschen zu helfen oder Menschen vor Wohnungslosigkeit zu bewahren, sind viele Zahnräder im Hilfesystem nötig, die ineinander greifen müssen“, hatte der Vorsitzende der Paritätischen Kreisgruppe Gotha, Ernst-Martin Stüllein schon zu Beginn der Tagung gesagt. Auch in den ländlichen Gebieten Thüringens stelle sich die Versorgung mit Wohnraum für viele Bevölkerungsgruppen als Herausforderung dar, unterstrich er.
Positiv vermerkte der schwäbische Experte Hein, dass die Fördermöglichkeiten in Thüringen, die über die Aufbaubank gewährt werden können, gut ausgeprägt seien. Er ermunterte die Anwesenden, immer wieder bei Politik und Verwaltung aktiv zu werden, selbst aber auch nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, die dann gemeinsam mit den anderen Akteuren ausgelotet und umgesetzt werden könnten. Kreativität und Pragmatismus seien dazu notwendig, so Hein. Denn, so Hein: „Es gibt Lösungen. Die sind aber nicht einfach. Denn wenn es einfach wäre, könnte es jeder.“
Gefördert durch die Glücksspirale