„Gemischte Gefühle“ beim Blick auf die politische Kultur in Thüringen
Von links nach rechts: Lars Vogel von der Universität Jena, Christiane Lochner-Landsiedel vom Projekt Schau HIN und Hartmut Kaczmarek
Erfurt, 2. Dezember 2016. „Gemischte Gefühle“ – so ist der Titel des diesjährigen Thüringen-Monitors zur politischen Kultur im Freistaat Thüringen. Lars Vogel ist einer der Mitautoren dieses jährlich erscheinenden Berichts. Und was er den Teilnehmenden am Rad(t)schlag von Schau HIN an Zahlen, Daten und Fakten präsentierte, hinterließ auch bei ihnen gemischte Gefühle. Drei Kurzfilme, die im Auftrag von Mobit gedreht und von Jan Smendek von den FilmpiratInnen vorgestellt wurden, zeigten in erschreckender Art und Weise die Verrohung des öffentlichen Diskurses auf, das ständige Brechen von Tabus durch Rechtspopulisten, aber auch die wachsenden menscheinfeindlichen Einstellungen in der Gesellschaft und den steigenden Antisemitismus heute.
Smendek berichtete den Teilnehmenden von den massiven Anfeindungen, denen man bei den Dreharbeiten – beispielsweise bei Demonstrationen von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten – ausgesetzt gewesen sei. Die Verrohung der Sprache, das ständige Brechen von bisherigen sprachlichen Tabus, wurde bei den Aufnahmen, die bei Thügida-Märschen, AfD-Kundgebungen und anderen rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Veranstaltungen entstanden waren, deutlich. Erschreckend auch das große Maß an Antisemitismus, das sich in der Gesellschaft breit macht. In einem der Filme dokumentiert das der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, Reinhard Schramm, anhand von Hass- und Drohbriefen, die die Landesgemeinde erreichen – und zwar nicht anonym, sondern mit vollem Namen und Adresse.
Die gemischten Gefühle beim Blick auf die politische Kultur in Thüringen untermauerte Vogel mit seinem Zahlenmaterial, ist die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge noch immer groß, andererseits gibt es aber bei den Thüringerinnen und Thüringern auch große Befürchtungen. Einerseits ist die Zahl der als rechtsextrem eingestuften Thüringerinnen und Thüringer gegenüber dem Vorjahr gesunken, andererseits hat sich Thüringen zu einem regelrechten Hort für Rechtsrock-Konzerte entwickelt, kaufen rechtsextremistische Gruppierungen vermehrt Immobilien, nutzen Thüringen als eine Art Rückzugsraum, wie aus den Erkenntnissen des Beratungsnetzwerkes „Mobit“ hervorgeht. Und die rechtspopulistischen Töne auf Thüringens Straßen werden immer lauter, die antisemitischen Töne nehmen zu.
64 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer geben nach den Zahlen des Thüringen-Monitors an, dass Flüchtlinge und Asylsuchende in ihrer Nähe leben, doch nur 28 Prozent bestätigen, persönlichen Kontakt zu haben und 19 Prozent berichten von Auswirkungen auf den Alltag. Durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden fühlen sich 16 Prozent bedroht und zehn Prozent haben schon eine persönliche Bedrohungserfahrung gemacht. Trotzdem kann nach Meinung der Autoren des Monitors von einem krisenhaften Einbruch des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung nicht die Rede sein. Gestützt wird das durch den Befund, dass 55 Prozent der Befragen von überwiegend positiven Empfindungen berichten, wenn sie Flüchtlingen und Asylbewerbern begegnen, 46 Prozent bekunden ihre Bereitschaft, sich für Flüchtlinge und Asylsuchende zu engagieren und weitere 16 Prozent haben das schon getan.
Die Thüringerinnen und Thüringer sehen Chancen, haben aber auch Sorgen. 87 Prozent erkennen in der Aufnahme von Flüchtlingen Chancen. Mehr als die Hälfte der Befragten erwarten einen Ausgleich des Bevölkerungsrückgangs und eine Zuwanderung von Arbeitskräften. Aber es gibt auch Sorgen: Rechte politische Radikalisierung, ein Anstieg der Kriminalität, Zunahme des Einflusses des Islams, die Kosten der Unterbringung und eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts werden mit deutlichen Mehrheiten genannt, während nur eine Minderheit – von allerdings 41 Prozent – die Zunahme der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt mit sorgenvollem Blick betrachtet.
Der Thüringen-Monitor enthält aber auch Hinweise darauf, dass die Flüchtlingspolitik zu einer Entfremdung zwischen Wählenden und politischen Eliten beigetragen hat. So stimmen 71 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass „in unserer Demokratie die Anliegen der Menschen nicht mehr wirksam vertreten werden“ und nahezu die Hälfte beklagt, man dürfe heutzutage seine Meinung nicht mehr frei äußern, da man sonst Nachteile zu befürchten habe. Den Medien wird von 72 Prozent unterstellt, dass sie „einseitig berichten und von der Politik gelenkt werden.“ Damit werden auch die Pressefreiheit und eine neutrale Berichterstattung in Frage gestellt. Diese Befunde stufen die Autoren als besorgniserregend ein.
Überraschend ist der festgestellte Rückgang des Rechtsextremismus in Thüringen. 16 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer werden von ihren Einstellungen her als rechtsextrem beurteilt, im vergangenen Jahr waren das noch 24 Prozent.
Lars Vogel brachte das in seiner Analyse im Rad(t)schlag auf diese Formel: Die Thüringer sind „Gutmensch“ und „Dunkeldeutscher“ meistens in einer Person und belegte das mit Aussagen, die jeweils eine Mehrheit unter den Befragten fanden: Zustimmung zur Zufluchtsgewährung für Verfolgte, Hilfsbereitschaft, freundliche Haltung gegenüber Flüchtlingen in der eigenen Lebenswelt, aber zugleich Forderungen nach einer Obergrenze und nach einer rigorosen Abschiebung nach der Ablehnung von Asylanträgen und dem Wegfall von Fluchtgründen, ein geringes Ausmaß der Gefühle allgemeiner und persönlicher Bedrohung, aber verbreitete Furcht vor einem Anstieg der Kriminalität und der „Islamisierung“, Misstrauen vor staatlicher Manipulation und schiefer Berichterstattung der Medien im allgemeinen, aber Vertrauen in die im Alltag genutzten Medien.
Fazit der Veranstaltung: Diejenigen, die für Weltoffenheit, Toleranz und demokratische Werte einstehen, müssen den Diskurs und die Diskussion noch offensiver als bisher führen. Sie müssen den Staat drängen, sich mehr um die „Abgehängten“ der Gesellschaft zu kümmern, die ansonsten in rechtspopulistisches Fahrwasser abzugleiten drohen. Das kann nur geschehen, wenn bei den Investitionen in Infrastruktur, in Bildung und soziale Teilhabe nachgelegt wird. Diese Position des Paritätischen wird auf Landes- und auf Bundesebene aktuell intensiv vertreten und in die Debatten eingebracht.
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